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Arnaldur Indridason: Engelsstimme

von Michael Hopp am 22.12.2004

Dumm gelaufen! Da hatte ich mich so auf die Adventszeit und die Weihnachtsfeiertage gefreut, und dann habe ich nichts besseres zu tun als den neuen Arnaldur Indridason zu lesen. "Frohe Weihnacht ade – Bonjour Tristesse!"

Der Weihnachtsmann ist nämlich tot. Erstochen fand man ihn in im Keller eines Reykjaviker Hotels. Jahreszeitgemäß in seinem roten "Arbeitsanzug", allerdings mit heruntergelassenen Hosen und einem Kondom über seinem Geschlechtsteil. Nun hätte man das Buch nach diesen Schilderungen am Anfang einfach bis Januar liegen lassen und die Weihnachtszeit genießen können. Aber nein, jetzt beweist der Autor sein "perfides" Können. "Engelsstimme", so der Titel des Romans, ist von der ersten Zeile an ein packender und spannender Krimi, den man nicht so ohne weiteres aus der Hand legen kann.

Die im letzten Absatz geschilderte Situation mag nicht einer gewissen absurden Komik entbehren, aber im weiteren Verlauf des Buches spielt Indridason, wie schon in seinen vorherigen Kriminalromanen "Nordermoor" und "Todeshauch", wieder auf der literarischen Tastatur, die er am besten beherrscht: Die fortschreitende Entfremdung der modernen Zivilisation von eigentlich selbstverständlichen Werten, die Auswirkungen von Intoleranz, die Zerstörung von Beziehungen, die Auflösung gesellschaftlicher Normen und die aus diesen Gegebenheiten entstehende zunehmende Vereinsamung des Individuums. In seinem Buch gibt es fast nur fast nur deformierte Charaktere. Entwurzelte Jugendliche, misshandelte Kinder, desillusionierte Nutten, sich an Kinderpornos aufgeilende Pädophile, zerstörte Menschen. Ein Sammelsurium menschlicher Wracks.

Auch Kommissar Erlendur, schon Protagonist der ersten beiden Romane, ist der Meinung mit seinem schweren Kindheitstrauma, seiner kaputten Ehe und seiner rauschgiftsüchtigen, sich prostituierenden, ihn oft hassenden und selbstmordgefährdeten Tochter, das Leben schon hinter sich zu haben.

"Sie schien mit ihren Gedanken weit weg, schien in ein Leben zurückgekehrt zu sein, das sie vor langer Zeit gelebt, als sie keine Lügen kannte und alles nur aus Wahrheit bestand, wie frisch gefallener und reiner Schnee."

Alle drei Romane Indridasons haben, neben den mit Hochspannung entwickelten Plots, eines gemeinsam. Sie sind pure Gesellschaftskritik im Gewande eines Kriminalromans. Verlust der Lebensqualität durch den rasanten Wechsel, dem die isländische Gesellschaft in den letzten Jahrzehnten unterworfen war, die kritiklose Übernahme fremder Werte, das Streben nach dem Mammon "Geld" lässt die Menschen zu hilflosen Marionetten werden, gefangen in einen nicht endenden Wettlauf gegenseitiger Konkurrenz.

Düster und perspektivlos sind nicht nur die auftretenden Figuren, sondern auch die Schauplätze. In "Engelsstimme" sind es ein verwahrloster Keller und lieblose, kalte Zimmer eines Abfütterungshotels für Touristen.. In "Nordermoor" war es eine verwahrloste Souterrainwohnung. In "Todeshauch" eines der, sich durch Konformität und Lieblosigkeit auszeichnenden, Baugebiete an der Peripherie Reykjaviks.

Indridasons Romane sind faszinierende, spannende aber auch verstörende Literatur. Zum Glück gibt es am Ende von "Engelsstimme" den Hauch eines Silberstreif am Horizont, aber auch wirklich nur den Hauch.

Zurück bleibt ein Kritiker, der als Krimifan absolut befriedigt ist, aber auch etwas traurig und melancholisch in den trostlosen grauen Herbsthimmel über Osnabrück blickt.


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