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Steinunn Jóhannesdóttir: Das sechste Siegel

von Michael Hopp am 25.11.2004

"Sie schlief. Neben ihr lag ihr kleiner Sohn. Sie ließ ihn bei sich im Bett an der Wand schlafen, wenn ihr Mann auf See war. Sie liebte es, den ruhigen Atem des Jungen im Schlaf an ihrer Wange zu spüren."

Derart poetisch beginnt Steinunn Jóhannesdóttirs Roman "Das sechste Siegel". Und zu dieser Sprache findet die Autorin, trotz der oft realistisch beschriebenen grausamen Szenarien, immer wieder zurück.

Die Geschichte der Protagonistin, Gudrid Simonardóttir, beginnt im Jahr 1627. Arabische Piraten brandschatzen und plündern ihr Heimatdorf auf den Westmänner-Inseln und verschleppen Hunderte von Isländern nach Algier. Gudrid und ihr heranwachsender Sohn sind unter ihnen. Auf dem nordafrikanischen Sklavenmarkt verschachert, beginnt eine Leidenszeit die fast ein Jahrzehnt andauern soll. Gudrid sieht Freunde und Bekannte sterben, wird selber erniedrigt, findet aber auch neue Freunde, entführte Isländer aus anderen Landesteilen - und, bei allem Leid und Selbstzweifeln, bewahrt sie ihre eigene Identität und ihren Stolz. Als sich nach neun Jahren die Gelegenheit eines Freikaufes bietet, ergreift sie die Eigeninitiative und ist einer der wenigen weiblichen Gefangenen, die einen Teil des Lösegeldes selbst aufbringen. Nach einer langen, schwierigen Rückreise kehrt sie nach Island zurück.

So weit, und in dieser Abhandlung auch nur in groben Zügen, die Geschichte dieses Romans. Was ihn so lesenswert macht, ist nicht nur die spannende Geschichte, es ist die facettenreiche Persönlichkeit mit der die Autorin ihre Heldin ausstattet. Anfangs ein Mensch mit klar strukturierten Auffassungen und Glaubensbildern die vom Leben auf den Inseln gekennzeichnet sind, reflektiert sie im weiteren Verlauf des Romans über neue Erfahrungen, erkennt ihre sich verändernde Persönlichkeit. Veränderungen, die für sie überlebensnotwenig werden.

"Sie begann zu zögern, als es darum ging, sich vorzustellen, das Gottes Augen auch über ihre Feinde..... wachten. Wie könnte das sein? Sie suchte fiebrig nach einer Antwort auf diese letzte Frage, bis plötzlich eine Sternschnuppe vor ihr vom Himmel fiel. Sie zog eine lange, dünne Leuchtspur hinter sich her. War das die Antwort Gottes? Zerbarst eines seiner Augen, als sie fragte, ob alle Menschen unter seiner Obhut seien...."

Hinzu kommen faszinierende, detailreiche Schilderungen zum Leben in jener Zeit. Egal ob die Beschreibung städtischer Szenen in Algier, Bordeaux und Amsterdam, die Häuser und das alltägliche Leben auf den Westmänner-Inseln, Landschaftsschilderungen von der langen Rückreise der versklavten Isländer, die Handwerks- und Schifffahrtskunst des 17. Jahrhunderts, der Leser taucht ein, wird vom bildhaften Text mitgerissen.

Geschickt auch der Schachzug der Autorin, die auftretenden Figuren, zumindest die der Isländer, immer kurz mit ihrem familiären Hintergrund oder ihrer Herkunft zu schildern. So werden im Laufe der Kapitel deren Konturen immer schärfer, man weiß sie im Laufe des Buches besser einzuordnen, was erheblich zur Verständlichkeit beiträgt.

Die auftretenden isländischen Figuren haben alle gelebt und ihre Versklavung ist in alten Dokumenten schriftlich belegt. Gudrid Simonardóttir heiratete später den großen isländischen Dichter Hallgrimm Petursson und starb 1682 im Alter von vierundachtzig Jahren.

Fazit: Ein bewegendes, spannendes und kraftvolles Buch. Unbedingt lesenswert.

Was sich allerdings der deutsche Herausgeber beim Einband und Auswahl des Titels gedacht hat, wird wohl für immer rätselhaft bleiben. Der Schutzumschlag zeigt, absolut einfallslos, einen Arkadengang, der wohl arabisch sein soll. Und der Titel "Das sechste Siegel" ist völlig daneben. Er kommt lediglich einmal (Seite 450) als Zitat aus der Bibel in dem Buch vor.

Da hätte man besser daran getan, einfach den Originaltitel "Reisubók Gudridar Simonardóttir" zu übersetzen. Aber wir wollen diesen Artikel versöhnlich enden lassen. Mit einem der schönsten Absätze aus dem Buch:

"Und im selben Augenblick, als Ásta das Wort Westmänner-Inseln aussprach, wurden sie in ihren Gedanken beinahe greifbar. Das leuchtend grüne Gras. Die feinen Gischttropfen der Brandung. Das Gezeter der Seevögel. Das Flügelschlagen des Papageitauchers. Sölmunds kleine Füße, die über die Wiese liefen."

Kann man den Begriff "zuhause sein" besser beschreiben?

Deutsche Erstausgabe September 2004, Wunderlich Verlag, gebunden, Euro 19,90


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